SCHRIFTTEXTERKLÄRUNG
"Und da sie ihn sahen, beteten sie ihn an; einige aber zweifelten."
Matthäus 28,17
Ihr habt diesen Text bestimmt und habt damit auch schon wieder den Nagel auf den Kopf getroffen. Fürwahr, es könnte dieser Text für eine Hauptzentralsonne angesehen werden!
„Als sie Ihn sahen, beteten sie Ihn an.“ Wen sahen sie denn, und womit sahen sie Ihn, und wie beteten sie Ihn an?
Sie sahen Mich, den Herrn. Womit denn? Mit ihren Augen. Und wie beteten sie Mich an? Mit ihrem Mund. Warum beteten sie Mich denn an? Weil sie durch das Wunder wussten, wer Ich bin; sie wussten nämlich, dass Ich der Herr bin. Woher wussten sie aber das? Sie wussten das durch Meine Lehre, und durch Meine Taten, und durch das Wunder Meiner Auferstehung.
Nun wollen wir sehen, ob ihr nicht desgleichen tut!
Ihr seht Mich zwar nicht mit euren Augen, aber desto mehr seht ihr Mich mit euren Ohren und mit den Augen der Seele, welche da sind euer gutes Ver-ständnis. Denn das Sehen mit den Augen ist wohl das wenigste, weil die Bilder, die in dasselbe fallen, sehr flüchtig sind und keinen Bestand nehmen. Das alte Sprichwort ist richtig: „Aus den Augen, aus dem Sinn!“
Aber was ihr wahrnehmt mit den Ohren, ist schon bleibender; denn ein ver-nommenes Wort könnt ihr zu jeder Zeit so getreu wiedergeben, wie ihr es vernommen habt. Aber versucht dasselbe auch mit einem geschauten Objekt. Selbst einem sehr gewandten Bildner oder Maler wird es nicht leichtlich gelingen, ein geschautes Objekt so getreu wiederzugeben, wie er es geschaut hat.
Aber Objekte, Bilder und Begriffe, die das Ohr aufgenommen hat, bleiben haften, und das überaus getreu; und dieser Treue zufolge könnt ihr reden, und das in verschiedenen Zungen, und könnt das einmal Gehörte oder Gelesene, ja selbst das Geschaute getreu wiedergeben, wie ihr es gehört, gelesen und geschaut habt, und das nach längeren Zeiträumen noch ohne die geringste Verwischung des Eindrucks, während ihr zufolge eures Augenlichts nicht einmal ein vor euch liegendes Bild so getreu nachzuzeichnen imstande seid, wie ihr es erschaut.
Daraus aber geht doch klar hervor, dass das Schauen mit dem Ohr ums unver-gleichliche bei weitem höher steht als das Schauen mit dem Auge. So steht das auch viel höher, den Ton eines Worts verständlich zu hören, als die äußere Form eines Bildes zu beschauen.
Ein Blinder kann gar wohl ein Weiser sein, aber ein Stummer wird es nicht leichtlich dahin bringen; denn die Stummheit ist die gewöhnliche Folge der Taubheit. Und dennoch haben die Stummen gewöhnlich ein viel schärferes Auge, als die da hören und darum nicht stumm sind.
Aus dem geht wieder hervor, dass das Schauen mit dem Ohr bei weitem höher steht als das Schauen mit dem Auge. Das Schauen mit dem Auge kann jemand wohl entzücken und überraschen, besonders wenn Objekte von großer Selten-heit zum Vorschein kommen; aber die Lehre nimmt nur das Ohr auf.
Aus dem geht also wieder hervor, dass es besser ist zu hören, als zu sehen. Denn was durch das Gehör eingeht, das erleuchtet und ordnet den Verstand; was aber durch das Auge eingeht, das verwirrt denselben nicht selten gar gewaltig.
Wenn zum Beispiel das weibliche Geschlecht nur von fernher von einer neuen Modekleidertracht etwas hören würde, aber nie etwas davon zu Gesicht bekäme, da bliebe ihr Sinn geordnet, und es ließe sich nicht leichtlich ein Frauenzimmer eine neue törichte Mode auf den Leib hängen; wenn sie aber dazu Bilder zu Gesicht bekommt, so verwirren diese den guten, einfachen Sinn und machen aus dem Weib gar bald eine eitel törichte Putzdocke, die Mir ärgerlicher ist als zehntausend Tollhäusler.
Aus dem geht wieder hervor, um wie vieles in jeder Hinsicht das Hören besser ist als das Sehen.
So aber seht ihr Mich auch täglich, und das durch das Ohr eures Leibes, so ihr Mein Wort lest, und durch das Ohr eurer Seele, welches ist euer besseres Ver-ständnis; und weil ihr Mich so seht, wie Ich auch bei euch auferstehe, so erkennt ihr Mich gar wohl und betet Mich auch an, und das mit eurem Ver-ständnis und danach auch mit eurem Mund.
Nun aber frage Ich: War das von Seiten derjenigen, die Mich da nach der Auferstehung sahen und anbeteten, auch schon genug, um dadurch das ewige Leben zu überkommen?
Die drei Fragen, welche Petrus von Mir empfing, ob er Mich liebe, zeigen mehr als hinreichend, dass das alleinige Sehen und das Anbeten danach noch nicht genügt, einzunehmen Mein Reich und das ewige Leben mit ihm, so wie es nicht genügt, allein zu sagen: „Herr, Herr!“
Geradeso aber schaut auch ihr Mich, so ihr Mein Wort lest, und betet Mich auch an durch das Verständnis und durch die Aufmerksamkeit, mit welcher ihr Mein Wort lest. So könnt auch ihr sagen: „Wir sehen Dich und beten Dich an!“
Aber Ich erscheine noch einmal und frage euch Petrusse nicht nur dreimal, sondern zu öfteren Malen: „Liebt ihr Mich?“ Da sagt euer Mund: „Ja!“ Aber wenn Ich so recht genau in euer Herz blicke, da erschaue Ich dasselbe gar nicht selten wie einen verdrießlichen Herbsttag, in allerlei schmutzige Weltnebel verhüllt, und Ich mag dann vor lauter Nebeln nicht erschauen, ob dieses Ja wohl im Ernst im Grund eurer Herzen geschrieben steht mit glühender Schrift. Es mag ja sein, dass es darin geschrieben ist; aber warum so viele Nebel, die das Herz nicht selten so sehr verdüstern, dass man diese lebendige Inschrift der Liebe zu Mir nicht wohl ausnehmen kann?!
Weg also mit diesen Nebeln! Weg mit der alleinigen Anschauung und An-betung, damit diese Inschrift, welche ein Werk der Tätigkeit nach dem Wort ist, vollends lebendig ersichtlich wird – und Ich Selbst am Ende zufolge des stets heller werdenden Lichts dieser geheiligten lebendigen Inschrift in eurem Herzen!
Was nützt sonach das viele Lesen und Verstehen, wenn die Tat ausbleibt? Was nützt Sehen und Anbeten, aber sich dabei fortwährend fragen lassen: „Petrus, liebst du Mich?“
Magdalena sah Mich auch; aber Ich fragte sie nicht: „Magdalena, liebst du Mich?“ Ich musste sie vor lauter Liebe nur abhalten; denn nur gar zu mächtig erwachte sofort beim ersten Anblick ihre Liebe zu Mir. „Rühr Mich nicht an!“, musste Ich zu der sagen, deren Herz beim ersten Anblick in den hellsten Flammen aufloderte.
Aber zum Thomas musste Ich sagen: „Leg deine Hände in Meine Wundmale!“, und den Petrus musste Ich fragen, ob er Mich liebe. Da wäre das „Rühr Mich nicht an!“ nicht wohl angewendet gewesen; denn weder im Petrus und noch weniger im Thomas pochte ein Herz Magdalenens Mir entgegen.
So brauche Ich auch zu euch nicht zu sagen: „Rührt Mich nicht an!“, sondern Ich sage zu euch mehr noch wie zu einem Thomas: „Legt gleichsam nicht nur eure Hände in Meine Wundmale, sondern legt eure Augen, Ohren, Hände und Füße in alle Meine Schöpfung, in alle Meine Himmel und in alle Meine euch enthüllten Wunder des ewigen Lebens, und glaubt dann, dass Ich es bin, der euch solches gibt! Und Ich verlange darum nichts, als dass ihr Mich liebt!“
Aber da sehe Ich denn immer noch den Petrus am Ufer des Meeres in euch, der sich fortwährend fragen lässt: „Petrus, liebst du Mich?“ Denn Petrusse seid ihr wohl in eurem Glauben, aber noch lange keine Magdalenen und keine Johannesse, den Ich auch nicht fragte, ob er Mich liebe; denn Ich wusste wohl, warum er Mir folgte, wenn Ich auch zu ihm nicht sagte wie zum Petrus: „Folge Mir!“
Petrus folgte Mir, weil Ich ihn Mir folgen hieß; Johannes aber folgte Mir, weil ihn sein Herz dazu trieb. Was wohl dürfte hier besser sein?
Petrus ward eifersüchtig auf Johannes, weil er ihn für geringer achtete als sich selbst; Johannes aber ward von Mir verteidigt, und ihm ward auch im selben Moment das Bleiben zugesichert, und das ist mehr als das „Folge Mir!“ Denn besser ist, zu dem Ich sage: „Bleibe, wie du bist!“, als dass Ich ihm gebiete, Mir zu folgen.
So ist auch die wahre, tätige Liebe besser als Glauben, Schauen und Anbeten und besser als von Mir viel lesen, viel verstehen, aber dafür wenig lieben!
Schrifttexterklärungen Kapitel 6