XX. Psalm
- Zu singen
dem Herrn am Schluss des Jahres -
Vollendet hat
wieder die Erde gar eiligen Flugs den Lauf um die leuchtende Mutter der Tage.
Die Reise ist weit,
und gar groß ist der mächtige Kreis, den die Erde, die kreisende Mutter so
vieler Gestalten und Wesen, in dreihundert sechzig fünf Tagen durchwandert.
Wohl hätte der
Mensch viele Tausend von Jahren zu steigen auch eiligsten Schritts, bis er
vollenden gar möchte einmal die alljährliche Reise der Erde, doch wie da auch
immer die Dauer der Zeit solcher Reise beschaffen sein mag, und wie weit auch die
kreisige Bahn sich dehne, so ist doch die Folge gewiss und gar sicher, dass
nämlich auf jeglicher Bahn ist gesetzt ein endliches Ziel.
So hat es gemacht
aus gar weisesten Gründen der Herr, der allmächtige Schöpfer der Engel und
Menschen, der Sonnen und Erden; sie kreisen und bahnen und wirken in ihren
gegebenen Sphären; doch all' dem Kreisen und Bahnen und Wirken ist treulich und
weislichst gesetzt ein Ziel, hier ein endlich's und dort gar ein ew'ges.
Vom nichtigen Punkt
beginnt die Erde die weithin gedehnte Bahn zu durchkreisen, und endet dieselbe
am nämlichen Tag stets wieder.
So auch der Mensch
auf der Erde im Staub den Kreis seines Wirkens beginnt, und endet dann wieder
im nichtigen Staub denselben. Die Welten und Sonnen vergehen, wenn ganz sie vollendet
einst haben die weitesten Kreise im endlosen Raum und werden dann wieder
atomischer nichtiger Hauch! Und die Menschen, die großen und stolzen, die
werden zum Futter der Würmer, und diese dann endlich zur Nahrung des nichtigen
Staubs.
Und wer kann es
leugnen, und sagen: So ist es nicht! Denn es lehrt ja die stete Erfahrung, dass
alles dem nichtigen Punkt oder Staub entsteigt, und endlich stets wieder zu
selbem rückkehrt.
Und doch mag der
Mensch, der gar blinde Bewohner des Staubs, sich höchlichst erheben und tun,
als ob er im ewigen Zentrum der ewigen Allmacht und göttlichen Herrschaft sich
befände.
Du armer Bewohner
des Staubs, gedenk' doch am Schluss der Bahn der Erde, am Schluss des Jahres,
wie alles mit der staubigen Welt seine endliche Bahn beschließt, und das auf
dem Punkt des Nichts, da der herrlichst dir scheinende Flug war begonnen, so
wirst du ersehen dein törichtes Treiben und Jagen im Staub, als Staub nach dem
Staub.
Wie töricht wäre
doch der, der im schwankenden Nachen* noch möchte verweilen, so er in diesem ein Ufer erreichte, und möchte in
selbem ein Walten anfangen, als wär' er ein mythischer Gott über Wogen und
Fluten.
Ist's anders mit
dir, mein hochtrabender, mächtig dich dünkender Bruder? O sieh, mitnichten, du
bist nur ein Tor und ärgerlichst blind, d'rum magst nicht erschauen die
nackteste Wahrheit, und nimmer begreifen, dass diese sehr schwankende Welt ja
doch nichts als ein ebenso schwankender Nachen nur ist; dieser Nachen kann
tragen dich staubigen Bruder entweder an's Ufer des Lebens, und ebenso gut an
das staubige lockere Ufer des Todes, aus dem du nicht leichtlich erstehen mehr
wirst.
O so mache denn
einmal ein bleibendes Ende dem staubigen Jagen und Treiben; bedenke, dass Einer
nur über dem Staub der Welten frei lebt und herrscht, und Dieser ließ staubig
uns werden, damit wir die Ohnmacht des Staubs für's ewige Leben hier sollten
verkosten, um dadurch stets mächtiger Ihm nachzustreben, und treten mit unseren
Füßen den nichtigen Staub!
Und wann solches du
wirst erkennen, so wird dir der nichtige Wechsel der Zeiten kein Wechsel mehr
sein, denn du wirst dann erhaben im Geist und der Wahrheit hoch über den
dampfenden Trümmern der guten Zeiten dastehen und sagen: Ich habe im
schwankenden Nachen das Ufer erreicht, das Ufer des Lebens, und habe gefunden
den Heiligen Vater voll Lieb' und Erbarmen. So strebt mir nach all' ihr Brüder;
denn hehr ist zu wohnen im Schoß des Vaters!
Psalmen und Gedichte S.32
* kleines, flaches Boot/Fischerkahn